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Herausgeberin: Forschungsstelle Digitale Ökonomie (Digi-Oek.ch)
DfC 1135
Kategorie:
Autorinnen, Autoren, Mitarbeit (DfC 1003): [various]
Redaktion:
Status: Experimentell
Aktuelle Version 0.2, Datum 2022-10-20
Datum erste Version: 2022-10-04
DOI:
Permalink: www.digi-oek.ch/dfc/dfc1135/
Änderungsprotokoll: /dfc1135-changelog.txt


Verordnung über die Mehrwertsteuer (elektronische Verfahren) (MWSTV)

  1. Einleitung
  2. Vernehmlassungsantwort Verordnung über die Mehrwertsteuer (elektronische Verfahren)
    1. Klarer Fall — oder doch nicht
    2. Grundsätzliche Überlegungen
    3. Detailfragen MWSTV
    4. Vorschläge und Bemerkungen
    5. Fazit
  3. Kommentieren dieses DfC
  4. Lizenz
  5. Weiterführende Informationen
  6. Referenzen

Einleitung

Dieser DfC behandelt ein aktuelles Thema. Eine Vernehmlassungsantwort zur Mehrwertsteuerverordnung1 ist im Rahmen des
Mini-Projekts “Forschung :: Jugend :: Digitalökonomik
überraschend und kurzfristig entstanden.

Diesr DfC ist als Experiment zu verstehen.


Vernehmlassungsantwort Verordnung über die Mehrwertsteuer (elektronische Verfahren)

Sehr geehrter Herr Bundesrat
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren

Im Rahmen der Vernehmlassung zur Verordnung über die Mehrwertsteuer (elektronische Verfahren), Vernehmlassung 2021/112, erlauben wir uns, Stellung zu nehmen.

Wir sind in diesem Fall Studierende, die im nachfolgend erwähnten Mini-Projekt mitmachen.

Über uns

Die “Forschungsstelle Digitale Ökonomie (Digi-Oek.ch)” (Cyber and Digital Economy Research Network) hat ein Mini-Projekt “Forschung :: Jugend :: Digitalökonomik” lanciert. Dabei soll das Digi-Oek.ch-Netzwerk in kleinem Rahmen Studierende bei Digitalfragen unterstützen.

Überraschend und kurzfristig ist ausgerechnet zu einem Mehrwertsteuer-Thema eine Vernehmlassungsantwort entstanden.
Wir behaupten nicht, dass dieses Experiment repräsentativ für “die Studierenden” oder “die Jugend” ist.

Es widerspiegelt aber, dass vertiefte Diskussionen durchaus differenzierte Gedanken hervorbringen können.

Diese Vernehmlassungsantwort ist zusammengesetzt aus Diskussionen und Arbeiten zu indirekt verwandter Thematik. Redaktion und Korrekturlesen hatten in der kurzen Zeit weniger Priorität. Jedoch erforderte das Experiment privates Engagement und Interesse, das über studentische Pflichten hinausging. “Wir”, “uns” wird stellvertretend für die zusammengewürfelte Gruppe von Studierenden verwendet. — Gemäss redaktionellen Leitlinien (DfC 1003) waren keinerlei Pflichten damit verbunden.

Klarer Fall — oder doch nicht

Die Diskussion ist in einem etwas anderen Zusammenhang entstanden. Es ging um Gruppendruck und Zwang beim Gebrauch von digitalen Mitteln. Dies im Wissen, dass 100 % von uns weitgehend “digital” unterwegs sind.

Eine Fragestellung war aber, ob das, was normal erscheint auch obligatorisch sein darf. Solche Diskussionen gab es ja bereits bei der Covid-App.

Zur MWSTV kamen wir zufällig. Jemand wusste, es sei geplant, dass gewisse Pflichten von Firmen gegenüber dem Bund künftig obligatorisch elektronisch erfüllt werden müssten.

Normalerweise würden wir sagen, das sei für Firmen kein Problem. Oder ein kleineres Problem als bei Privatpersonen.

Aber nach etwas hitzigen Diskussionen kamen wir einhellig zum Schluss: nein, das Obligatorium sollte es nicht geben. Auch Studierende, welche die vorgelegte Änderung der MWST-Verordnung zuerst problemlos fanden, sahen die Probleme und schwenkten auf ein Nein ein.

Natürlich finden wir die kleine Änderung der MWSTV nicht gut geeignet für eine gesellschaftliche Diskussion. Für ein exemplarisches Studienobjekt zu wichtigen Grundfragen taugt sie aber recht gut.

Das war ein Experiment und eine Übung, aber eine ernsthafte und interessante. Wir anerkennen, dass dieser Text noch wenig ausgereift ist, jedoch die wichtigsten Diskussionen zusammenfasst.

Grundsätzliche Überlegungen

Zusammenfassende Stichworte aus den Diskussionen:

Was sollen die Voraussetzungen sein, um Pflichten gegenüber dem Staat, Kanton, Bund, Gemeinde zu erfüllen? Unserer Meinung nach sollten fast überhaupt keine Voraussetzungen vorhanden sein. Häufig wären das Lesen und Schreiben. Oder nicht mal das? Ein erschreckend hoher Teil der Bevölkerung beherrscht das Schreiben nicht. Es gibt sicher hilfreiche Unterstützungsangebote. Dennoch wäre heute kaum denkbar, Leute wegen einer Beeinträchtigung wissentlich zu diskriminieren. Besonders wenn es um Pflichten oder Rechte im Staatswesen geht.

Bisher machten wir uns wenig Gedanken darüber, dass Pflichten wie diejenige in der MWSTV eine andere Pflicht voraussetzt. Wir erinnern uns, dass sogar ein ehemaliger Datenschutzbeauftragter für ein Obligatorium der Covid-Tracing-App plädierte (NZZ, 28.04.2020). Abgesehen von anderen Schwierigkeiten hätte ein solches Obligatorium eine andere Pflicht vorausgesetzt: die Pflicht, ein Smartphone (nicht irgend ein Handy) zu besitzen, und erst noch ein relativ neues Modell.

Das ist bei der vorgelegten MWSTV-Änderung zwar etwas weniger ausgeprägt der Fall. Dennoch würden hier betroffene Organisationen und Firmen verpflichtet, ein bestimmtes Gerät (Computer wie bspw. ein Notebook, Handy usw.), ein Abo (meistens mindestens irgendwelches Internet-Abo) zu haben, eventuell weitere, scheinbare Selbstverständlichkeiten. Selbst wenn das für die Mehrheit sowieso zutrifft, können wir eine solche “Ober-Pflicht” nicht in der Verfassung oder der EMRK herauslesen. Eine Pflicht, etwas zu haben, zu kaufen, vielleicht sogar ein bestimmtes Gerät, kann ja wohl nicht mit Mehrheitsverhältnissen begründet werden. Uns fiele kein wirklich vergleichbarer anderer Fall ein.

Wir denken, der Staat soll Leistungen gegenüber den Einwohnern und Firmen wirtschaftlich erbringen. Die Verwaltung soll wirtschaftlich arbeiten. Den Bürgerinnen, Einwohnern und Firmen gegenüber sollen aber alle Dienste gleichermassen zugänglich sein. “Vorschriften”, ob und wie wirtschaftlich gearbeitet wird, soll der Verwaltung, nicht den Einwohnern und Firmen überbunden werden. Das heisst, Behörden ermöglichen es Wirtschaft und Bevölkerung, wirtschaftlich zu arbeiten. Es steht Behörden aber nicht zu, Private zu verpflichten, auch nicht zu Wirtschaftlichkeit.

Wir fänden es befremdend, wenn der Staat den Einwohnern und Firmen vorschreibt, wie eine Pflicht zu erfüllen ist, wenn es mehrere anerkannte Wege gäbe und wenn damit eine andere Pflicht vorausgesetzt wäre (die es offenbar gar nicht gibt).

Wir sagen, es gehört zu den Freiheitsrechten, kein Fahrrad, Auto, kein TV, kein Handy haben zu können, und trotzdem Bewohnerin oder Firma in diesem Land zu sein. Und trotzdem Pflichten erfüllen und Rechte wahrnehmen zu können. Die Freiheit umfasst auch die Wahl von gleichwertigen oder anerkannten Wegen zum Ziel. Beispielsweise zu Fuss gehen statt per Rad, von Hand schreiben dürfen statt per Computer usw., selbst wenn beides möglich wäre.

Uns fällt kein passender Vergleich ein, wo eine hohe Verbreitung als Argument für ein Obligatorium dient. Fast, aber nicht ganz, bei Radio-/TV-Gebühren. Diese sehen wir als faktische Kopfsteuer mit begrenztem Opt-Out. Aber auch dort gibt es keine Vorschrift, ein Radiogerät besitzen zu müssen, um der Steuer- bzw. Gebührenpflicht nachkommen zu können.

Weitere andiskutierte Fragen:

Wollen wir in einem Staat leben, der uns vorschreibt, wie wir Pflichten erfüllen und Rechte wahrnehmen können? Nein.

Wollen wir in einem Staat leben, der uns vorschreibt, dass wir nur Pflichten erfüllen und Rechte wahrnehmen können, wenn wir “Internet haben”, ein TV-Gerät, ein Auto, einen Computer oder ein Handy haben? Nein.

Soll es künftig verfassungs- oder grundrechtskonform werden (sein), dass der Staat faktisch zum Besitz von Computern, Internet usw. zwangsverpflichten kann, um gewisse Firmen- oder Bürger-Pflichten zu erfüllen? Auch dann, wenn dies für die grosse Mehrheit kein Problem wäre? (Laut einer Rechtsexpertin werde diese Frage selten gestellt.) Ausgerechnet als junge Personen, für die Internet, Smartphone usw. selbstverständlich sind, haben wir mit einem Nein eine eindeutige Haltung gefunden. Nach Diskussionen zudem einstimmig. Das überrascht uns selber ein bisschen.

Technische Resilienz haben wir andiskutiert. Laut einigen Profs ist wahrscheinlich, dass das Internet künftig nicht immer so selbstverständlich funktionieren könnte, wie wir es kennen oder gerne haben möchten. Das wäre jedoch eine komplexe Fragestellung.

Fragen, die wir nicht beantworten konnten:

  • Sind die Angebote, hier die Web-Applikation zum Erfüllen der Mehrwertsteuer-Pflichten, vorbildlich, bedienungsfreundlich, accessible, sicher und privat?
  • Gibt es noch weitere Voraussetzungen, um diese Web-Applikation zu nutzen? (Theoretisch, aber etwas unsinnig, könnte eine Person “Internet” sporadisch irgendwo extern kriegen, vielleicht sogar kostengünstig, wenn nicht noch weitere Voraussetzungen bestehen.)
  • Sind Strafen vorgesehen, wenn solche Applikationen nicht sicher sind? Das würde in diesem Fall die staatlichen Behörden betreffen.

Sollte eine Antwort nein lauten, würde das unsere oben geäusserte Meinung verstärken. Wir hatten zu wenig Zeit, um diese und weitere Fragen zu recherchieren und beantworten.

Detailfragen MWSTV

Die Auswirkungen laut Bericht sind klein. Fast haben wir gedacht, ob die 100’000 Franken ernst gemeint seien. Was fehlt sind bedeutende Einsparungen. Können beispielsweise 10 oder 20 % des Personals eines Bundesamtes eingespart werden?

Zumutbarkeit gemäss Bericht: Verfehlt den Punkt. Es fehlt die Überlegung, dass es unseres Wissens keine Pflichten gibt, damit die Erfüllung einer anderen Pflicht überhaupt zumutbar (oder nicht zumutbar) sein kann. Wie bereits oben ausgeführt.

Zudem wird nicht gesagt, dass “Digitalisierung” – es fehlen Ausführungen, was in diesem Zusammenhang wirklich gemeint ist – immer Mehrkosten verursacht, so wie alle bisherigen technischen Entwicklungen in der Geschichte. Das ist ja ziemlich allgemein bekannt. Es müssten also bedeutende Einsparungen genannt werden können. Diese hätten aber keinen logischen Bezug zur Pflicht, sondern zum Angebot, hier der Abteilung MWST.

Vorschläge und Bemerkungen

  • Zitat aus dem Bericht: “Nutzung des Portals für die betroffenen Steuerpflichtigen vorteilhafter”: falls die Website gut gemacht ist, stimmen wir zu. Was für die Mehrheit gilt, darf deshalb nicht zur Pflicht werden.
    Pflichten für alle, wirklich für alle, bspw. Militärpflicht für Beeinträchtigte, Steuerpflicht für Mittellose, gibt es unseres Wissens nicht wirklich.
    Ebenso bei den Rechten: Grundrechte sind unseres Wissens nach nicht Mehrheitsrechte (Ausnahmen?).
    • Das sollte sinngemäss in der Verordnung klar werden.
  • Personen, hier MWST-pflichtige Firmen, Organisationen, müssen mindestens eine Möglichkeit haben, ihren Pflichten auf eine anerkannte Weise erfüllen zu dürfen. Die Pflicht zu einer bestimmten Infrastruktur muss seitens der staatlichen Behörde gelten, nicht aber seitens der Bewohnerinnen und Firmen. Zu bekannten und anerkannten Weisen gehören auch die Handschrift oder Schreibmaschine (!). Trotzdem wird die Mehrheit das elektronische Verfahren weiter nutzen können.
  • Es ist nicht Aufgabe der staatlichen Behörde, Zumutbarkeit von Privaten zu beurteilen. Die Stimmbürger/-innen als Vorgesetzte der Behörden (wie es BR Maurer zu pflegen sagt) können eventuell demokratisch entscheiden, was zumutbar sein soll innerhalb der Behörden, inklusive beispielsweise, dass sie ein elektronisches Verfahren anbieten müssen.

Fazit

Mehrheits- oder Zumutbarkeits-Überlegungen dürfen nicht als Argument auf der Seite der Bürgerinnen, Firmen usw. eingesetzt werden. Sinnvoller wäre, diese umzudrehen, so dass sie auf die (Bundes-)Verwaltung zielen: Dass beispielsweise eine MWST-Abrechnung auch elektronisch eingereicht werden kann, ist selbstverständlich. Das darf nicht zu einer Bürger- (Firmen-)Pflicht “verdreht” werden.

Wenn es mehrere anerkannte (oder bekannte) Wege zum Ziel gibt,

  • muss die Zumutbarkeit auf der Seite der Verwaltung als gegeben betrachtet werden.
  • müssen Einwohner/-innen oder Firmen die freie Wahl haben (Beispiel MWST-Abrechnung).

Eine effiziente Verwaltung soll nicht danach bemessen werden, dass (nicht festgeschriebene) Pflichten den Bewohnern und Firmen überbürdet werden.

Es erstaunt uns sehr, dass im Bericht zur Vernehmlassung keine Argumente, auch nicht vertiefte Untersuchungen erwähnt werden zu den obigen Grundsatzfragen. Wir können uns fast nicht vorstellen, dass dazu keine Überlegungen gemacht wurden, mindestens in anderem Zusammenhang. Oder dass diese Fragen nicht relevant sein sollten.

Die Diskussion gehört nicht in den Bereich einer MWST-Verordnung. Vielmehr müsste sie übergreifend geführt und beispielsweise voraussetzende Pflichten festgelegt worden sein. Ergebnisse daraus können dann in eine MWST-Verordnung einfliessen, genauso wie überall sonst.


Freundliche Grüsse
(Für das Ad hoc Team von Studentinnen und Studenten)


Review von Experten: ja, nur grobe Überprüfung auf sachliche Fehler. Jedoch grössere Unterstützung, um Diskussionen in Formulierungen zu überführen. Korrekturen in Absprache mit den Beteiligten. Die hier geäusserten Meinungen müssen nicht mit denjenigen des Digi-Oek.ch-Netzwerkes übereinstimmen.




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Dieser DfC kann auf der Mailingliste oder in weiteren Foren dieses Projektes Digi-Oek.ch kommentiert werden.

Zeitraum, Fristen: Kommentierung war bis 20.10.2022 sinnvollerweise möglich, da die Vernehmlassungsfrist bis 21. Oktober 2022 dauerte.

Lizenz

Die Inhalte dieses DfC stehen unter der Lizenz CC BY-SA 4.02.

Weiterführende Informationen

Referenzen

  1. “Mehrwertsteuer soll elektronisch abgewickelt werden” 29.06.2022, <https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-89525.html> 

  2. Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0) gemäss den Bestimmungen unter: <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/>