Kommentar - Die Prognosefähigkeit in Wirtschaftsfragen wird zwar oft überschätzt. Aber so kurz vor der Abstimmung kann man von einem eher knappen Resultat ausgehen. Ganz ohne Zynismus wird das Analysieren bei einem Ja zum Brexit interessanter als bei einem Nein: Das Ja könnte ausgerechnet den Befürwortern mehr schaden als den Gegnern.

Es sieht nach einem knappen Ergebnis aus. Wir wagen die Prognose, dass das Ja knapp überwiegen wird. Das vermutlich deutliche Nein in London und grösseren Städten, in Schottland und in Nordirland wird auch ein relativ knappes englisches - und wahrscheinlich walisisches - Ja nicht ins Nein kippen lassen. Bald wissen wir mehr, aber für diesen Kommentar gehen wir von unserer Ja-Prognose aus.

Was sind die Auswirkungen eines Brexit?

Domino-Effekt: Wird es einen Domino-Effekt geben? Nein, keine anderen europäischen Staaten sind auch nur annähernd bereit, einen EU-Austritt ernsthafter als rhetorisch zu erwägen.

Panik in den Märkten: Kurzfristig wird es sicherlich einige ungewohnte, wenn auch kaum dramatische Bewegungen an der Börse und beim Pfund geben. Mittelfristig wird sich die Bewertung in den Märkten auf die neuen Aussichten einpendeln. Der Handel mit Gütern und Dienstleistungen wird nicht von heute auf morgen erschwert. Vielleicht einigt man sich mit der EU sogar auf eine neue, gesichtswahrende Form von bilateraler Freizügigkeit.

Fraglich bleibt aus heutiger Sicht, ob sich im Königreich geeignete Unterhändler finden lassen, die eine britische[^1] Position des Alleinganges mit der EU überzeugt und überzeugend aushandeln können. Kommt hinzu, dass Politiker, die den Brexit heute vehement befürworten, dies eher nicht aus voller Überzeugung zu tun scheinen. Voraussichtlich werden sie nach der Abstimmung bei einem Ja-Erfolg nicht unbedingt zu jenen gehören, welche konstruktive, handfeste Lösungen werden präsentieren können.

Verlierer bleiben Verlierer

Die grössten negativen Auswirkungen dürften ausgerechnet bei den Ja-Stimmenden in England sein. Nach teilweiser Desindustrialisierung und wegen freien Personen- und Warenverkehrs gab und gibt es wohl tatsächlich Verlierer, die mit einem Brexit ausgerechnet noch mehr verlieren dürften:

Subventionen: Einerseits dürfte sich die persönliche wirtschaftliche Lage bei EU-Subventions-Empfängern selbstredend verschlechtern. Aber das Ausmass ist vermutlich begrenzt und konzentriert sich auf einige Branchen wie die Landwirtschaft. Sonst dürfte es weniger direkte Auswirkungen geben, als man vermuten mag.

Beschäftigung und Investitionen: Hingegen kann eine andere Entwicklung mittelfristig Auswirkungen zeigen: Sollten sich internationale Konzerne wegen zu befürchtender Nachteile im Waren- und Dienstleistungsverkehr von Britannien verabschieden, sind weitere Einbussen bei Beschäftigung und Einkommen nicht ausgeschlossen. Dies dürfte aber, wie das Beispiel Schweiz zeigt, auch von andern Standortfaktoren abhängen. Wenn Firmen mindestens gleichwertige Bedingungen in kontinentalen EU-Ländern vorfinden, EU-Freihandel wie bisher inbegriffen, dann dürfte Grossbritannien aber zurzeit nicht genügend Trümpfe in der Hand haben, um mittelfristig eine Abwanderung aufzuhalten.

Mehr Stellen für Britinnen und Briten dürfte es auch bei einer andern Ausländerpolitik nicht so bald geben. Ausländer, etwa aus Polen, haben wohl zu wichtige Funktionen in kritischen Institutionen wie Spitälern inne, als dass man hier schnell Briten einstellen könnte. Einige (kosmetische) Massnahmen mit geringem sachlichen Wert dürfte nach einem Ja zum Brexit dennoch geben.

Demokratiedefizit

Die EU mag zwar in grossen Teilen Europas skeptisch betrachtet werden, was für Teile der EU-Bevölkerung noch stark untertrieben ist. Ein Brexit dürfte aber bei der Wahrnehmung undemokratischer Verhältnisse, für welche die EU verantwortlich gemacht wird, nichts ändern. Die britische Bevölkerung wird auch ohne EU-Mitgliedschaft nicht mehr zu sagen haben, im Land selber nicht und natürlich noch weniger innerhalb der EU als weiterhin wichtige Handelspartnererin.

Wahrgenommene und tatsächliche Missstände insbesondere beim Mittelstand sind seltener der EU als vielmehr Grossbritannien selber zuzuschreiben. Einige Ökonomen, die sich auf Einkommens- und Vermögensverteilungsfragen spezialisiert haben, stellen offenbar fest, dass in westlichen Ländern der Mittelstand seit Jahren zu den Verlierern gehöre, besonders seit 2008 (wahrgenommene und tatsächliche Verluste). Möglich wäre, dass dies den Trend zu Brexit und andern unkonventionellen Volksentscheiden verstärkt hat. Ungleichheitsfragen und deren Auswirkungen sind alllerdings umstritten und vielleicht noch zuwenig erforscht.

Insgesamt dürfte Grossbritannien wirtschaftlich eher verlieren, wenn es nicht gelingt Investoren zu überzeugen, weshalb sie Arbeitsplätze in Grossbritannien - also dereinst ausserhalb der EU - und nicht näher bei den Abnehmern erhalten oder aufbauen sollen. Britannien scheint wenig darauf vorbereitet zu sein, zum Ausgleich von mutmasslichen Verlusten mehr hochqualifizierte Arbeitsplätze und Nichen-Branchen anzuziehen, wie dies der Schweiz oft gelingt.

Die Schweiz könnte sich in den Verhandlungen mit der EU betreffend Personenverkehr und Einwanderung in einer nochmals schwierigeren Position wiederfinden. Denkbar wäre aber auch, dass die EU nach einem Brexit nicht unbedingt ein Interesse hat, die Verhandlungen mit der Schweiz völlig scheitern zu lassen. Die EU hat allerdings derzeit schlicht andere Prioritäten.

[1]: britisch und (Gross-)Britannien werden hier für das ganze Vereinigte Königreich verwendet. Die formal korrekte Bezeichnung ist natürlich “Vereinigtes Königreich Grossbritannien und Nordirland” (UK).

(Digi-Oek.ch/div/wue)